Mannbarkeitsfeier

In der „tageszeitung“ schildert eine Journalistin das Fortleben der „Jugendweihe“ im Osten der Republik und die Probleme, die sie als Mutter einer pubertierenden Tochter damit hat. Denn sie erinnert sich an das Ritual, das sie selbst in der Zeit des „real existierenden Sozialismus“ im Saal des Kino International in der Karl Marx Allee durchlitt. Der stellvertretende Postminister der Deutschen Demokratischen Repu­blik – ein öder Bürokrat als Festredner – hatte sie und die anderen Jugendlichen dort aus der Kindheit entlassen und mit Urkunde und Handschlag auf den vollen Einsatz für den Sozialismus verpflichtet.

Heute ist die Jugendweihe im Osten eine Veranstaltung, die privat organisiert wird und nicht auf ein be­stimmtes Gesellschaftsmodell verpflichtet. Was geblieben sind, sind Äußerlichkeiten: die Jugendlichen verkleidet als kleine Erwachsene, eine Festrede, Geschenke und eine gewisse Peinlichkeit, die gleich­wohl, auf Seite der Erwachsenen, mit Rührung durchmischt ist. Die Journalistin stellt sich abschließend die Frage, für wen eigentlich diese Entlassung ins Erwachsenenleben zelebriert werde und welche Bedeutung sie denn für die Beteiligten habe. Eine glaubwürdige Antwort findet sie nur für sich selbst: das Ritual hilft ihr bei ihrem Entschluss, ihr Kind nun los zu lassen.

Die DDR hatte die Jugendweihe staatlich vereinnahmt. Heute, vor 155 Jahren, war sie von den Frei­denkern als weltliches Pendant zu Konfirmation und Firmung für agnostische Familien erfunden und, folgerichtig, vom „gottgläubigen“ Führer sofort verboten worden. Umso seltsamer erscheint mir heute deshalb die Feier zu meinem vierzehnten Geburtstag, mit dem ich „mannbar“ geworden war und an dem ich im Kreis „der Sippe“ in einem fast identischen Ritual, gekleidet als junger Erwachsener, aus der Kindheit entlassen wurde: feierliche Musik, Festrede, Geschenke inklusive. Nur die Inhalte waren verschieden.

Meine Taufbibel war die Prachtausgabe von Hitlers „Mein Kampf“, die zum 50. Geburtstag des Führers in einer Sonderausgabe mit goldener Sonnenrune und Schwert auf dem Einband herausgegeben worden war. Mein Patenonkel Duschi, er arbeitete damals im Innenministerium des Reichs in Berlin, hatte damals auf das Vorblatt die Widmung geschrieben:

„ Meinem lieben Patenkind und Neffen Adolf Albert Erwin R. v. Straub in Seewalchen mit den aufrichtigsten Glücks- und Segenswünschen für ein starkes Leben im Dienste unseres deutschen Volkes und der Idee unseres Führers! Heil Hitler!“

Und nun sollte ich, vierzehn Jahre später und neun Jahre nach Ende des Kriegs, in der Halle der Villa meines Großvaters in Urach auf den Einsatz für Führer, Volk und Vaterland eingeschworen werden – beziehungsweise das, was nach Völkermord und Kapitulation davon noch übrig geblieben war.

Die Mannbarkeitsfeier war Angelegenheit der „Sippe“, ging also über das rein Private hinaus, denn mit Sippe verband sich auf mystische Weise im völkischen Denken zugleich die größere Gemeinschaft, das „Volk“. Fraubarkeitsfeiern gab es übrigens nicht und auch mein kleiner Bruder kam nicht in den Genuss dieser Feier, denn zu diesem Zeitpunkt hatte die Ehe meiner Eltern ihr Ende schon erreicht und mein Vater war weggezogen. Wie bei der Jugendweihe war auch die Mannbarkeitsfeier ein Initiationsritus, dafür bestimmt, den Jugendlichen in die Gesellschaft der Erwachsenen aufzunehmen. Ich sollte an die­sem Tag zum Beispiel zum ersten Mal im Kreis der Erwachsenen Alkohol, nämlich Sekt, trinken dürfen. Freilich hatte ich schon zuvor heimlich allerlei probiert… Das Taschengeld wurde an diesem Tag erhöht. Es war also nicht mehr unbedingt nötig, aus Mutters Haushaltskasse ab und zu einen Groschen zu entwenden, um im „Quentzer“ Tom-Mix-Filme anzusehen. Für diesen „amerikanischen Schund“ hätte man von den Eltern nie und nimmer freiwillig einen Zuschuss bekommen.

Diese Feier war also ein ziemlich wichtiges Ereignis in meinem Leben. Dennoch erinnere ich mich nur an wenige Details.

Vor der Villa meines Großvaters am Hirschseeweg 1 erstreckte sich ein parkähnlicher Garten. Die Terrasse auf der Südseite umspannte die ganze Front und ging auf ein Rasenparterre hinaus, das mit Blumenbeeten gesäumt war. Gegenüber lag ein Pavillon, dessen rundes Dach auf Säulen auflag und auf beiden Seiten in einem Laubengang auslief, an dessen Maßwerk sich Rosen empor rankten. Zwei geschwungene Treppen führten von der Terrasse auf die Kieswege, die das Parterre umsäumten. Auf der westlichen Seite des Gartens schloss sich der Wirtschaftbereich an: eine kleine Wiese, über die die Wäscheleinen gespannt wurden, dahinter das Gewächshaus, glasbedeckte Frühbeete und Beete, dann der Schuppen mit dem Hühnerstall. Vor Gewächshaus und Beeten, abgetrennt durch Haselsträucher, die den Komposthaufen verdeckten, breitete sich ein kleiner Obstgarten aus.

Der Eingang zur Villa lag an ihrer Rückseite, dem Hang zu. Eine breite Steintreppe führte von der Auf­fahrt über einen Windfang übers Eck in die mächtige Halle des Hochparterres. Sie erweiterte sich zu dieser Außentreppe in einen kleinen, leicht erhöhten Erker, durch dessen bleiverglaste Butzenscheiben freilich kaum Licht in die Halle fiel, obwohl sie fast die ganze Breite dieses Erkers einnahmen. Auch die Halle selbst war „altdeutsch“ gestaltet: braune Balken trugen die hohe Decke, die Wände waren bis auf Mannshöhe von dunklen Holzpaneelen bedeckt und auch die Türen die von ihr abgingen, waren dunkel gebeizt. Sie führten in den Saal und zum Herrenzimmer und zu einem kurzen Flur, der zu Tante Linas Reich und zum Speisezimmer führte. Linas Reich: das waren Küche und Speisekammer, Keller und Waschküche, alle zugänglich von diesem kleinen Flur, der sich zu einem kleinen Aufenthaltsraum er­weiterte, an dessen Tisch Tante Lina ausruhen oder Nadelarbeiten verrichten konnte.

Von der Halle führte eine stattliche Treppe in das Obergeschoss der Villa, in dem die Schlafzimmer lagen und weiter hinauf in die Zimmer der Dienstboten. Das Licht aus dem Fenster des Treppenab­satzes ist in meiner Erinnerung stärker als das des großen, sechsarmigen hölzernen Leuchters, der in der Mitte der Halle hing und sie im Düstern schweben ließ.

Zum Reich von Tante Lina führte auch eine eigene Treppe aus dem Park, direkt in die Küche. Es war der Zugang für die Bauersfrauen gewesen, die dem Haushalt des Herrn Fabrikanten früher Eier, Geflügel, Obst und Gemüse zugeliefert hatten, wohl auch für anderes Dienstpersonal, wie den Gärtner Füllemann, der jenseits des Hühnerstalls sein eigenes Haus hatte. Und für uns Kinder, die gerne in den verwilderten Ecken des Parks Indianer spielten.

Der Zugang über die Halle war also ein förmlicher Weg, der zum „herrschaftlichen“, zum förmlichen Bereich führte – und der war wie die Halle: etwas düster und streng geordnet. Linas Reich und der Zugang zu ihm waren hell und nachsichtig.

Hier muss ich den Bericht über meine Mannbarkeit weiter unterbrechen, Tante Lina hat es mehr als verdient.

Sie war gar keine Tante, sondern seit Jahrzehnten Großvaters Haushälterin. Sie kam aus einer Bauern­familie aus Lonsingen, kaum zehn Kilometer von Urach entfernt, von der Hochebene der Schwäbischen Alb. Die kargen Steinäcker, generationenlang durch Realteilung immer kleiner geworden und in der Gemarkung zerstreut, konnten kaum die Familien ernähren. Die Männer suchten Arbeit in den Fabriken im Tal, so auch in der Textilfabrik meines Großvaters, die Mädchen gingen, sofern sie eine fanden, „in Stellung“, wenigstens bis zu dem Augenblick, in dem sie heirateten.

Lina verließ das Dorf und in der Kleinstadt, zwei Wegstunden unten im Tal bei der bürgerlichen Ober­schicht eingespannt, fand sie offenbar keinen Mann, der ihr und ihrer Herrschaft genügt hätte. Vielleicht war es auch umgekehrt: sie ging in Stellung, weil sie auf ihrem Dorf keinen Mann gefunden hatte. Und dann kam der Krieg, nach dem keine Männer mehr da waren, die einen hätten heiraten können. So blieb sie bei Großvater Erwin Gross, blieb auch, als nach dem Krieg die Franzosen die Villa okkupiert hatten, Großvater allerdings dort wohnen ließen und Lina sogar gestatteten, mit den Lebensmittelabfäl­len im Schuppen bei den Hühnern ein Schwein für die Familie zu mästen. Lina sorgte weiter für Groß­vater und auch für die Franzosen und sommers wanderten wir alle hinauf auf die Albhochfläche, um dort auf den Äckerchen ihrer Familie Ähren zu lesen und bei der Heuernte zu helfen. Ich glaube, es gab dafür Bauernbrot aus dem Backhaus und Milch.

Wenn ich über das Verhältnis von „Herr und Knecht“ am Beispiel des Fabrikanten Erwin Gross und seiner Haushälterin nachdenke, gerät Einiges kategorisch durcheinander. So klar ist das Verhältnis nämlich nicht, wie es die Theorie will und wie sie zum Beispiel Bert Brecht dramatisiert hat. Einmal war es gemildert durch das patriarchalische Selbstverständnis meines Großvaters, das Fürsorge für die ihm Unterstellten und ihre Familien implizierte. Zum Andern bewies sich in der „schlechten Zeit“ umgekehrt deren Anhänglichkeit. Es bildete sich hier ein Verhältnis von Reziprozität aus, das zwar asymmetrisch, aber doch, im Rahmen der jeweiligen Möglichkeiten, reziprok war.

Doch zurück zu meiner Mannbarkeitsfeier.

Man hatte zu diesem Festakt Stühle so in die Halle gestellt, dass der breite Aufgang zu den Oberge­schossen als eine Art Bühne genutzt werden konnte. Seitlich zum Erker hin stand ein mächtiger Musikschrank, vermutlich der Grundig aus unserem Haus, das kurz zuvor auf der Stelle des alten Schuppen und Hühnerstalls gebaut worden war. Es gab zur feierlichen Einstimmung Beethovens „Weihe des Hauses“ auf Schellack. Vielleicht war es aber auch schon Vinyl, denn wenigstens technisch und wirtschaftlich war ja schon ein neues Zeitalter angebrochen. Vom geistigen Gehalt meiner Mann­barkeitsfeier freilich lässt sich dies nicht behaupten.

An die Inhalte der einzelnen Reden kann ich mich nicht erinnern. Vermutlich hielt mein Vater eine kleine Ansprache und vermutlich betete er dabei die übliche Litanei von Anstand, Ehre, Kameradschaft, Stolz und Treue herunter und vergaß sicher nicht die Pflichterfüllung und die Verklärung der Mutterschaft. Er hielt diese Reden auch bei den Sonnwendfeiern im Reitverein und ich fand sie immer etwas aufgebla­sen. Das hatte auch mit einem Tick zu tun, den Vater hatte: am Ende eines besonders bedeutsamen Satzes, sei er patriotisch oder völkisch aufgeladen, blies er Luft unter seine Oberlippe, sodass sich sein graues Führerbärtchen sträubte. Das gab ihm, sicher gegen seine Absicht, ein eher komisches denn bedeutsames Aussehen. Jedenfalls machte mir dieser Effekt seine rhetorischen Leistungen zunichte. Zu diesem eher ästhetischen Zweifel kam ein praktischer: einige Männer, die er zu seinen Kameraden rechnete, waren eher gescheiterte Existenzen und von geringerer Geisteskraft. „Anständiger Kerl“ nannte er jeden davon, der seiner Meinung zu „Besatzern“ und „Demokratur“ beipflichtete und blies zur Bekräftigung unter die Lippe. Ich hielt das, durchaus in elitärer Selbsteinschätzung, jeweils für Fehlurtei­le: für mich waren diese Kerle einfach blöde. Aber es führte dazu, dass ich meinem Vater in politischen Fragen bald kein Wort mehr glaubte.

Vielleicht habe ich deshalb gar nicht erst zugehört oder gleich vergessen, was er sagte. Wenn er gesprochen hat, dann sicherlich über die Pflicht. Um die ging es eigentlich immer, in Abwechslung mit dem Dienen oder in Kombination beider. Und die Pflicht war auch Thema der Festrede. Für sie hatte man einen fernen Onkel ausgewählt, den ich kaum kannte und der extra von Stuttgart heraufgekommen war, ein Gymnasiallehrer, der so etwas wie pastorale Autorität ausstrahlte, selbstverständlich die streng protestantische. Vielleicht war es aber auch noch die faschistische – der Unterschied zwischen beiden ist, rein äußerlich, ohnehin gering.

Ich wartete eigentlich nur darauf, endlich mein Geschenk inspizieren und auf den Kieswegen im Park ausprobieren zu können, ein Fahrrad Marke „Express“ mit einer Dreigang-Nabenschaltung. Das war damals technisch der letzte Schrei, so etwas hatten nur ganz Wenige von meinen Mitschülern und Freunden. Das würde mich ihnen gegenüber, vier Monate nachdem sie zur Konfirmation Uhren oder Fahrräder geschenkt bekommen hatten, nun endlich wieder mächtig in Vorteil setzen.

Ich hörte meinem Onkel also entsprechend zerstreut zu, bis er mir zum Schluss mein Lebensmotto, analog den Bibelsprüchen, die meine Freunde zur Konfirmation bekamen, mit auf den weiteren Lebensweg gab. Er ist von Rabindranath Tagore und geht so: „Ich schlief und träumte, das Leben sei Freude. Ich erwachte und sah, das Leben ist Pflicht. Ich tat meine Pflicht und siehe: die Pflicht ward Freude.“

Zufall oder Absicht: in gewisser Weise bezog sich dieser Spruch auf Patenonkel Duschis Widmung in Hitlers „Mein Kampf“. Was mich dabei überraschte war, dass ein Inder solch preußischen Quark von sich gegeben hatte. Ich hasste diesen Spruch vom ersten Moment an und habe ihn wohl deshalb nie vergessen können. Und mich daher vermutlich im Zweifel auch an ihn gehalten. Sollte es so gewesen sein, kann ich jedoch versichern: der Spruch ist falsch. Zumindest die letzte Aussage kann einen generellen Anspruch auf Wahrheit nicht erheben.

Warum aber gerade Tagore, der Inder? Es hat vermutlich mit ihm und seinem Werk weniger zu tun, als mit der Seelenlage der bürgerlichen Jugend nach dem ersten Weltkrieg, unserer Elterngeneration, die sich nach dem zweiten anschickte, als bürgerliche Mitte in der neuen Bundesrepublik anzukommen. Der erste Literatur-Nobelpreisträger, der nicht aus der europäischen Literatur- und Sprachtradition stammte, war ihnen eine ideale Projektionsfläche. Phänotypisch stand er in der Tradition des „Orientalismus“, mit dem sich schon unsere Großeltern aus den moralischen Zwängen des Kaiserreichs geträumt hatten. Nach den Verwüstungen des ersten Weltkriegs rührten nun seine gefühligen und leicht esoterischen Gedichte und Aphorismen die Herzen ihrer Kinder, die aus der spießigen Enge der Untertanengesin­nung ausbrechen wollten. Für viele aus dem „Wandervogel“ wurde Tagore so etwas wie ein Hausheili­ger, umso mehr, nachdem er die „Nerother“ auf der Burg Waldeck besucht hatte. Und seiner Beliebtheit kam zugute, dass er als „Arier“ galt, was ihn auch Nazi-kompatibel machte.

Jacob Wilhelm Hauer jedenfalls, Tübinger Religionswissenschaftler, Indologe und Begründer des pietistisch fundierten „Köngener Bundes“, war fest davon überzeugt, dass die Wiege der arischen Rasse in Indien gestanden und die pietistische Spiritualität indische Wurzeln hatte. „Deutscher Glaube“, die von ihm herausgegebene Monatsschrift der Deutschen Glaubensbewegung, trug auf dem Titel dieselbe Sonnenrune wie meine „Taufbibel“. Und Hauer – über Mutter bin ich irgendwie weitläufig mit ihm verwandt – wurde einer der linientreuesten Naziprofessoren Tübingens. Als ich dort zu studieren begann, lebte er noch. Dem Vorschlag aus der Familie, ihn dort einmal aufzusuchen, bin ich nicht gefolgt.

Onkel Rudolf Stahlecker, mein Festredner, gehörte bestimmt auch zu den „Köngenern“, mit denen meine Mutter freundschaftlichen Verkehr pflegte. Zumindest hatte sie so enge Beziehungen zu dieser Wandervogel-Gruppierung, dass sie in höherem Alter, über zehn Jahre nach der Scheidung, mit einem der früheren Freunde aus dem Bund zusammenzog. Gustav war in meinen Augen ein etwas frömmeln­der Langweiler, aber man soll seinen alten Eltern nicht reinreden. Ungefähr die Hälfte der Köngener lief übrigens bedingungslos zum Nationalsozialismus über, die andere Hälfte hielt eine gewisse Distanz. So kann es mit Mutters späterem Lebensgefährten gewesen sein, mit Onkel Rudolf eher weniger. Mutter aber wurde BDM-Führerin und gehörte bis Kriegsende zur NS-Frauenschaft in Seewalchen.

Doch zurück zu Rabindranath Tagore. Er passte nun auch nach dem zweiten Weltkrieg ganz prächtig in die sich langsam verändernde Gesellschaft und das beginnende Wirtschaftswunder. Für die alten Nazis stand er, trotz oder gerade wegen der jüngsten Niederlage gegen den „jüdisch-bolschewistischen Pluto­kratismus“, für die Überlegenheit der arischen Rasse. Denn schließlich war auch er ein Kämpfer, näm­lich für die Befreiung Indiens aus dem kolonialen Joch des „perfide Albion“, einem der wichtigen Vertre­ter der weltweiten Verschwörung gegen das Deutsche Reich. Den jungen Demokraten repräsentierte er dagegen eine neue Weltläufigkeit, die sich bei ihm vor allzu unverständlich Exotischem nicht zu fürchten brauchte. Tagore war ein idealer Übergang von Blut, Boden und Befehl zu Ferienreise, Fresswelle und Petticoat, inclusive Seelenschmalz und neuer Innerlichkeit. Kein Wunder, dass Onkel Rudolf bei ihm nachgeschlagen hatte.

Ich wusste lange nicht, ob mein Onkel Rudolf Bruder oder Vetter des berüchtigten Heydrich-Assistenten und Judenschlächters Walter Stahlecker war. Mein Gefühl sprach zwar dafür, dass sie eng verwandt gewesen sind. Denn sonst wäre doch irgendwann einmal in der Familie die Sprache auf die fatale Namensidentität gekommen, auch wenn über die Verbrechen der Nazis kaum je gesprochen worden ist. Erst mein Bruder bestätigte kürzlich die verwandtschaftliche Beziehung: Walter und Rudolf waren Brüder. Und mein Bruder war um das Jahr 1958 über diese Beziehung als Auszubildender nach Gut Bomlitz in der Lüneburger Heide vermittelt worden. Dort lebte Gabriele von Gültlingen, Walter Stahleckers Witwe, nun mit einem Herrn Bittelmann verheiratet.

Wie auch immer sich Rudolf in der Nazizeit verhalten haben mag – jedenfalls war mein Onkel belastet genug, dass er einige Jahre lang aus dem Schuldienst fern gehalten wurde. Offenbar beschäftigte er sich aber nach der Besatzungszeit, wie und unter welchem Vorzeichen auch immer, um die „Erneuer­ung von Bildung und Erziehung in Württemberg“. Im Landesarchiv, das den Nachlass des damaligen Erziehungsministers verwaltet, findet sich jedenfalls unter seinem Namen die Denkschrift einer entspre­chenden Organisation aus dem Jahr 1952 über die soziale Herkunft und Lage von Schülern an einem Stuttgarter Gymnasium. Das könnte die Vermutung nahe legen, er habe sich zu dieser Zeit politisch eher im Umkreis der CDU, denn weiter rechts angesiedelt. Doch das kann auch täuschen: in diesen Jahren versuchten z.B. mein Vater und viele seiner Gesinnungsgenossen durch Masseneintritte die FDP im Nazi-Sinn zu wenden, nachdem die Deutsche Reichspartei verboten worden war.

Mein Taufpate, Onkel Duschi, erlebte meine Mannbarkeit nicht. Er fiel in den allerletzten Tagen des Krieges in Istrien. Es ist unklar, wo genau er umkam und wie. Auch die Briefe, die Tante Anna von seinen Kameraden bekam, geben keinen genauen Aufschluss: eine Einheit der Wehrmacht war dort eingeschlossen worden, die Nachrichtenverbindungen waren abgerissen. Duschi wurde als Meldegän­ger mit dem Motorrad losgeschickt, um Informationen dieser Einheiten für den Ausbruch aus dem Kes­sel von Zabice zum Kommando zu bringen. Von dieser Fahrt kam er nicht zurück und niemand weiß genau, was mit ihm geschehen ist. Es gab dort ein Massaker, die grauenvolle Rache jugoslawischer Einheiten an den deutschen Eroberern: über dreihundert von ihnen seien dort gefangen, nackt ausge­zogen und dann erschossen worden – so der Bericht eines Entkommenen. Doch ob Duschi darunter war, wusste er auch nicht.

Aber warum war Onkel Duschi überhaupt an der Front? Dr. jur. Adolf Straub hatte das Innenministerium in Berlin 1941 verlassen und war als Landrat nach Leitmeritz gegangen. In seinem Landkreis, der Stadt gegenüber, am andern Ufer der Elbe, liegt Theresienstadt in Sichtweite.

Ich weiß nicht, ob er dorthin aus eigenem Wunsch versetzt worden war. Er verließ jedenfalls Berlin, das Ministerium und seine Wohnung in der Knesebeckstrasse im Unfrieden. Der Familiensaga nach hatte ein Vorgesetzter von ihm verlangt, ihm „eene fette Jans“ von einer Dienstreise ins „Protektorat Böhmen und Mähren“ mitzubringen. Duschi sei über diese Zumutung sehr empört gewesen und habe dies auch deutlich gezeigt. Dies habe dazu geführt, dass seine Position im Ministerium unhaltbar wurde. Offenbar war es als Degradierung gedacht, dass er nach Leitmeritz versetzt wurde.

Wir haben zwar einen qualifizierten Historiker in der Familie, Enkel von Duschi und die Personalakten des Innenministeriums liegen, neben den Parteiakten der NSDAP, in Dahlem im Archiv. Aber bis Dr. Chiari von Potsdam dorthin findet, gibt es für diese Episode keine wissenschaftliche Überprüfung. Das gilt auch für das Weitere.

Anna-Tant war gelernte Sozialarbeiterin. Und schweigsam, wie unsere Elterngeneration insgesamt zu ihren Biografien im Nazismus waren. Als ich sie einmal direkt auf das KZ Theresienstadt ansprach – vermutlich mit den Worten: „Du musst doch etwas gewusst haben…“, eine Redewendung, nicht gerade geeignet, verschlossene Lippen zu lösen – wollte sie nicht antworten. Aber die Hinweise meiner Cousi­ne Traudl legen nahe, dass Anna und Duschi in Leitmeritz ihre Nazi-Unschuld, soweit es die überhaupt gab, eingebüßt haben. Denn Anna verpflichtete sich dort dem Sicherheitsdienst; es bleibt dahingestellt, ob freiwillig oder gezwungen, aus Überzeugung oder zum Schutz ihres Mannes. Duschi, der Landrat, machte nämlich die Bekanntschaft eines tschechischen Mathematik-Professors. Traudl, damals zehn Jahre alt behauptet, sie hätten zuhause nicht miteinander Schach gespielt, wie ich es mir nach ihren ersten Erzählungen ausgemalt hatte. Aber der Mathe-Professor sei ein Widerstandkämpfer gewesen, der Duschi Vieles berichtet habe. Und Anna-Tant und die Haushälterin des Professors hätten ihn identi­fizieren müssen, nachdem ihn die Gestapo zu Tode geprügelt hatte.

Duschi meldete sich danach, es war wohl im April 1944 und der Krieg längst verloren, „freiwillig“ an die Front. Für ein starkes Sterben für unser deutsches Volk und die Idee unseres Führers?

Ich habe da Zweifel.

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