Antisemitismus

Meine Schwester ist zwei Jahre älter als ich. Als sie in die Schule kam und lesen lernte, machte ich es ihr zuhause nach. Ich las also schon sehr früh selbst. Zumindest die Kinderbilderbücher. Was ich daraus lernte, ist dialektisch verzwickt. In der deutschen Nazi-Öffentlichkeit galt als selbstverständlich: Die Juden waren an allem schuld. Aber es gab sie gar nicht wirklich, außer im Bilderbuch. Ich hatte in Seewal­chen ein antisemitisches Bilderbuch oder zumindest war in einem meiner Bilderbücher eine antisemiti­sche Geschichte, an die ich mich erinnere. Und ich erinnere mich an die Wirkung, die sie auf mich hatte, denn sie war ganz anders, als die Autoren es beabsichtigt hatten.

Der Jude darin war von imponieren­der Hässlichkeit gezeichnet, mit allen Attributen, die „den Juden“ ausmachten: eine gigantische Haken­nase, schwarze Peikes, ein seltsames Gewand und orientalische Schlappen an den Füßen. Der Jude saß an einem übervollen Teller und aß ganz offensichtlich einen Schweinebraten mit Knödeln. Dann trat jemand, vermutlich ein Arier, an seinen Tisch und machte ihm Vorhaltungen: als Jude dürfe er doch gar kein Schweinefleisch essen – übrigens etwas, das zu dieser Kriegs-Zeit sehr sehr selten auf unserem Tisch zu finden war.

Und nu?, was macht der ertappte Jude, der hier gegen seine eigenen Gesetze sündigt? Verschlagen, wie der Jude an sich ist, begeht er gleich seinen zweiten Frevel: es steht auf, schlägt über seinem Bra­ten das Kreuz und sagt: „Ich taufe dich ‚Gans’“, setzt sich hin und isst in aller Ruhe weiter.

Ich konnte mich mit dem Juden nicht wirklich solidarisieren, dazu war er zu abstoßend gezeichnet, aber wie er mit einer einfachen Bezeichnung sein Dilemma löste, erschien mir, dem Vierjährigen, ein­fach bewundernswert genial. Man musste den Dingen also einfach einen anderen Namen geben und schon veränderte sich alles. Vermutlich entsprachen Taufakt und Umdeutung genau den Bedürfnissen des Kindes, Verbotenes, moralisch Fragwürdiges – vom heimlichen Zuckerschlecken bis zum Wunsch, der Teufel möge die böse Hinterholzerin, diese alte Bisgurn holen – aus dem Zusammenhang von Verbot und Strafe zu lösen und einfach möglich zu machen.

Die Geschichte muss jedenfalls tiefere Schichten meiner Psyche angesprochen haben, weil ich sie nie vergaß und erinnere, ohne dass ich je darüber in der Familie sprach und sie damit ständig rekapitulierte.

Die Juden an sich blieben aber auch nach dem Ende des NS-Regimes an allem schuld. Für meinen Va­ter jedenfalls. Dabei gab es sie immer noch nicht wirklich, nicht jedenfalls in Urach. Auch später in Reut­lingen nicht, der schwäbischen „Stadt der Millionäre“ der Wirtschaftswunderzeit, wo man sie doch hätte vermuten können, weil doch alle Juden raffgierig und reich waren. Aber nein, falls es sie irgendwo gab, schienen sie sich irgendwo zu verstecken und wirkten über Verbündete, die sie nach Ansicht der über­lebenden Nazis überall hatten. Vor allem unter den Demokraten, diesem Gesindel, das Deutschland verkaufte. Mit denen zusammen wollten sie auch die Kultur zerstören, sozusagen das letzte Band, das unser Volk noch zusammenhielt. Dafür hatten sie beispielsweise den Jazz erfunden, „diese jüdisch-bol­schewistische Niggermusik““ die mich anfing zu faszinieren, als ich etwa 14 Jahre alt war und ihr beim Reitkurs im Haupt- und Landesgestüt Marbach begegnete, zu dem einige größere Jungen eine sensati­onell moderne Neuigkeit mitgebracht hatten: Kofferradios. Ich hörte zum ersten Mal mir bis dahin zu­hause verbotene Sendungen und Sender, vor allem AFN. Damit war ich für die völkische Sache endgül­tig verloren. Das war nicht wieder gut zu machen.

Ungefähr zu dieser Zeit begann ich auch Kafka zu lesen. Daran war aber nicht der AFN schuld, sondern Heide Gaiser, die große Liebe meines Lebens. Kafka gab es nicht bei uns im Bücherschrank. Der war frei von „jüdischer Dekadenz“, also arm an Kultur. Und gleich danach begann mich Sigmund Freud zu interessieren, parallel zu den französischen Existenzialisten, die für mich in erster Linie aus Camus be­standen. Es kann sein, dass ich Sartre damals gar nicht gelesen habe. Aber ich rauchte die gleichen Zigaretten wie er. Das musste reichen.

Es war schon von ironischer Qualität, dass ich ausgerechnet über die Reiterei auf den Jazz und über­haupt zu neuen Erkenntnissen gekommen bin. Denn die Reiterei war zu dieser Zeit noch eine absolut reaktionäre Veranstaltung, in deren Organisationen sich die letzten Reste völkisch-elitärer Kavalleristen eingenistet hatten. Aber in Marbach begegnete ich eben den Kindern von Neureichen, die längst in ein­em anderen Jahrhundert angekommen waren. Aber sie waren Reiter. Wir teilten die Stube, wir pflegten zusammen die Pferde, lernten gemeinsam beim theoretischen Unterricht und balgten uns mit den Mäd­chen unerlaubterweise nachts auf dem Heuboden.

Ein paar Jahre später kam ich aus den Sommerferien zurück und trug einen Existenzialistenbart. Ich machte in Reutlingen das Pferd fertig, mit dem ich das Bronzene Reitabzeichen machen wollte – das ging damals in Urach nicht; unsere Pferde waren nicht hinreichend dafür ausgebildet – führte es in die Halle, sattelte nach und stieg auf, als plötzlich der Reitlehrer in die Halle stürmte und drohte, mich mit der Peitsche aus dem Sattel zu schlagen, wenn ich nicht unverzüglich abstiege. Ich musste das Pferd in den Stall zurück bringen. Die Erklärung für den Grund dafür bekam ich dort zu hören: ich trüge einen „unreiterlichen Bart“. Schnauzer, Menjou oder Henry Quatre seien möglich, aber diese Existenzialisten­krause sei mit dem Reiterlichen nicht vereinbar.

Ich hätte gerne das Kreuz über ihm geschlagen und ihn in Henry Quatre umbenannt, allein, diese Idee kam mir nicht und sie hätte auch nicht viel geholfen. Denn dieser Reitlehrer galt als Nazi, er trank schon tagsüber und man sagte ihm zweierlei nach: er könne sehr unbeherrscht sein, zugleich aber auch, dass er selbst volltrunken noch ein unglaubliches Gespür für die Pferde unter seinem Sattel hätte.

Doch zurück zu den Juden. In den Semesterferien 1961 fuhr ich mit meinem ersten Auto in Ferien. Es war ein Lloyd 300, den ich für 300 DM gekauft und mit Ersatzteilen vom Schrottplatz beladen hatte. Ich fuhr über den Gotthardt nach Italien. In der Jugendherberge in Como wollte ich auf Karin warten, die von Rom heraufgetrampt kommen wollte. Dort traf ich auf ausländische Jugendliche, mit denen ich ins Gespräch kam und von denen einer bald ein besonderes Interesse an mir zeigte. Dass ich Deutscher war und Adolf hieß schien ihn besonders zu interessieren. Er selbst war blond und blauäugig und sagte mir, er hieße Siegfried Adler und käme aus Tel Aviv. Er war der erste Jude, den ich in meinem Leben kennen lernte und so völlig anders als erwartet, dass es mir die Sprache verschlug. Dazu trug auch bei, wie er mir begegnete: mit einer Art fast zärtlicher Zugewandtheit, die ein Mann noch nie mir gegenüber gezeigt hatte. Ich erschrak darüber. Das passte alles nicht zusammen. Wie konnte ein Jude solch ein Interesse an einem Nazikind haben, wie ein Mann an einem anderen Mann? War Siegfried schwul? Dann wäre der erste Jude in meinem Leben auch der erste Schwule gewesen, dem ich (halb) bewusst begegnet bin.

Dieses Zusammentreffen hätte mich möglicherweise überfordert, denn vor allem auf den Umgang mit einem schwulen Mann war ich absolut unvorbereitet. Dafür fehlte mir jedes Verhaltensrepertoire. Karin erlöste mich mit ihrer Ankunft aus dem Dilemma.

Meinem Vater konnte nicht verborgen geblieben sein, dass ich in den 80er-Jahren mit Sarah zusammen war. Ich hatte ihn nicht eigens darauf hingewiesen, aber alle in der Familie wussten davon, auch seine Frau, meine Tante Gretel. Unser Verhältnis hatte sich mit den Jahren entspannt, auch weil ich aufgehört hatte, mit ihm über Nazizeit und Krieg zu sprechen. Das hatte ohnehin wenig Sinn, denn er reagierte darauf wie ein Kleinkind; Argumenten war er nicht zugänglich. Er selbst kam auch nicht auf meine Liai­son mit einer „Halbjüdin“ zu sprechen, wenn ich ihn in Bludenz besuchte, obwohl sein Antisemitismus ihn hätte geradezu dazu zwingen müssen.

Dagegen berichtete er mir einmal, nach einer Kreuzfahrt durch das Mittelmeer, von dem Landgang in Israel. Er war voll des Lobes, wie die Bewohner dort die Wüste fruchtbar gemacht und, im Gegensatz zu den „dreckigen Arabern“, immerhin einst Bündnisgenossen der Nazis, ein blühendes Gemeinwesen auf­gebaut hätten. Ich war verblüfft: „aber Vati, das sind doch Juden! Und Du hast immer gesagt, Juden seien kulturunfähig!“ „Das hat damit nichts zu tun“, sagte er, „das bezog sich nur auf die Ostjuden“.

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