Fremd, Heimat

Da stand Herr Schmidt auf: Man nimmt uns die Heimat! Überfremdung, sagte er. Zuviele Fremde, die uns die Heimat rauben. Dagegen ist Widerstand geboten, so stehe es im Grundgesetz. Die Argumente kamen mir bekannt vor. Es sind die meines Vaters. Ihre Basis ist ein diffuser völkischer Rassismus, der sich rationaler Zugänglichkeit entzieht. Diskussionen darüber gleichen einem Reigen, dessen Figuren ewig wiederkehren. Fakten und Zahlen dringen durch den Brummbaß der Gefühle nicht hindurch. Es lohnt nicht.

Herr Schmidt und seine Argumente schienen Einigen bekannt. Er schnitt die Diskussion im Stadtforum über „Stadt und Migration“ mit, machte sich Notizen, offenbar ein Experte in „Heimat“, dessen Analyse bestimmt in einem kleinen rechtsgerichteten Blatt erscheinen wird. Er sagte nicht, was ihm Heimat sei, was Fremde. Herr Schmidt ist Heimatvertriebener und definiert Heimat vom Verlust her. Heimat ist für ihn der Verlust von etwas Vertrautem, an dessen Stelle nichts Anderes angeeignet worden ist.

In meiner Kindheit gab es viele Fremde in unserem Ort, Flüchtlinge wie Herr Schmidt. Das waren wir auch, aber doch auch wieder nicht. Wir waren faktisch eher aus der Fremde Zurückgekommene. Aber da ich noch einen fremden Dialekt sprach, drückten sie mich vor der Molkereizentrale aus der Schlange. Wie andere Flüchtlingskinder auch.

Da sagte die Frau mit der Milchkanne vor mir zu dem Bengel, der mich aus der Schlange gedrückt hatte in ihrem Dialekt, der mir damals noch fremd klang, er solle der Groß Irene ihr Bübele in Ruhe lassen. Meine Mutter war aus einer angesehenen Familie und in diesem Städtchen aufgewachsen. Ab diesem Tag konnte ich ohne weiteres Flüchtlingskinder vor der Molkereizentrale aus der Schlange schubsen. Kein Einheimischer schritt ein. Man hatte mich eingebürgert.

Die meisten Flüchtlinge wohnten im Barackenlager, kamen aus Schlesien oder Ostpreußen, waren schon dort arm gewesen, wie es hieß, sprachen seltsam, waren katholisch und ihre zahlreichen Kinder hatten Läuse und schlechte Noten im Rechtschreiben. Hagen dagegen wohnte in unserer Nähe, ging in meine Klasse und war Kriegerwaise. Sein Vater war bei der SS gewesen, man behauptete, er sei von den Besatzern nach der Befreiung eines KZ aufgehängt worden. Vielleicht war seine Familie daher besonders isoliert. Aber genau deshalb sollte ich sein Freund sein. So wollte es mein Vater. Außerdem war Hagen ein schlechter Schüler. Ich sollte ihm helfen. Bei Hagen roch es nach Armut. Ich mochte Hagen nicht. Wir prügelten uns auf dem Schulweg, auf dem Schulhof. Nach der Währungsreform gründete ich mit zwei anderen Kindern die Totenkopf-Bande. Wir legten unser Taschengeld zusammen, kauften Margarine, malten darauf einen Totenkopf und legten sie vor den Häusern der Armen auf die Türschwelle. Auch bei Hagen.

Es blieb bei drei Würfeln Margarine in einer einmaligen Aktion. Ich wurde dann zweiter Hauptmann in der verwegenen Streicherbande und ging danach mit einem größeren Vetter in die Ritterbande, obwohl ich dort der Jüngste und der Kleinste war. Zu der Bande gehörten nur Kinder der kleinstädtischen Oberschicht. Wir hatten unser Areal talaufwärts, auf dem Gelände des ritterschen Sägewerks und kämpften gegen die Rattenbande, Kinder der unteren Schichten. Die soziale Abkunft wurde bald wichtiger als die regionale Herkunft. Das Wirtschasftswunder brauchte alle Arbeitskräfte. Arbeit war der große Integrator und Heimatstifter. Einige Flüchtlingsfamilien schafften den sozialen Aufstieg bis in die gute Gesellschaft der Haus- und Grundbesitzer, der Handwerksmeister und Teilnehmer am Schäferlauf, dem Heimatfest in der Kleinstadt. Hagens Familie gehörte nicht dazu.

Es gibt in der Stadt Bad Urach, in der ich nicht geboren bin und kaum 15 Jahre lebte, einen Brauch, den alle befolgen: die Vierzigerfeier. Auch diejenigen, die längst fern der Schwäbischen Alb leben, kommen zu diesem Tag zurück. Wer nicht käme, würde seine Familienmitglieder dort in eine unangenehme Situation bringen. Man würde sie fragen, auf dem Marktplatz, beim Einkauf, in der Sauna, auf dem Weg zur Kirche: „Ha, der isch wohl ebbes bessers gworde, der kennt ons nemme…“ will sagen: der hat die Heimat verraten, die Familie verlassen. Sie kamen also, wie ich auch. Ich hatte den Eindruck, die Gruppe der 40-Jährigen bestand aus zwei unterschiedlichen Generationen. Diejenigen, die dort geblieben waren, wirkten – bodenständig und verhockt – als seien sie kurz vor dem Ruhestand. Wir Auswärtigen schienen im Vergleich dazu gerade der Pubertät entlaufen: die Puppenspielerin aus Frankfurt, der Fischhändler aus Göteborg, der Chemiker aus Basel und – Hagen aus Alaska.

Hagen war fremd geblieben in Urach. Der Flüchtling. Das SS-Kind. Er hatte die Volksschule abgeschlossen und eine Lehre gemacht. Aber er war nicht angekommen, fühlte sich nicht integriert in die Gesellschaft der Kleinstadt und nützte die erstbeste Möglichkeit zur Auswanderung in die USA. Hagen war zur Vierzigerfeier gekommen, seiner Mutter wegen und um „looking for my roots“. Hagen hatte sich in den Staaten zum Militär gemeldet. Das sicherte ihm schnelle Einbürgerung und Bildung – die Zugehörigkeit und die Chance, endlich sich selbst zu definieren. Hagen machte die ganze Scheiße in Vietnam mit, absolvierte danach die Highschool, erwarb einen degree in engineering, der ihm erlaubte, in Alaska auf den Erdölfeldern zu arbeiten. Nichts, was Hagen wirklich bewegte, konnte er in Deutsch hinreichend ausdrücken. Was er mir sagte war: er war Amerikaner aus Überzeugung. Er war endlich in einer Heimat angekommen. So it goes.

Alle zwei Jahre, beim Schäferlauf, zieht ein kilometerlanger Festzug durch die Stadt, Schäfer, Metzger, die Kreisreiter, Trachtengruppen und Themenwagen mit alten Gerätschaften und zu alten Sagen der Region. Zu den Trachtengruppen zählen seit langen Jahren auch die der Heimatvertriebenen. In der Zittelstatt, auf dem Festplatz, tanzen sie ihre Reigen, wie damals in Schlesien oder in den Sudeten. Meine Frau zog Vergleiche zwischen dem Schäferlauf und dem Fest Inti Raymi in Cuzco in den Anden. Ich mußte meinen Kindern erklären, was Heimatvertriebene sind. Eine der Gruppen kommt aus Donnstetten, einem kleinen Dorf der „rauhen Alb“, die so heißt, weil sie karstig, arid, arm und schneereich im Winter ist. Das Schwäbisch, das dort gesprochen wird, ist ebenso.

In dieser schlesischen Trachtengruppe tanzen und singen nun schon die Urenkel derer, die Schlesien verlassen mußten. Sie lernen die Texte wie eine Fremdsprache. Diesmal waren darunter zwei brünette Kinder, mit schwarzen Haaren und besonders anmutigen Bewegungen. Ihre Mutter stammt von den Phillippinen oder aus Thailand. Sie sehen allerliebst aus in ihrer schlesischen Tracht von der schwäbischen Alb. So reich kann Heimat sein. So überfremdet, armer Herr Schmidt.

Heimat ist das Fremde, das ich mir angeeignet habe.

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