Meine Zeit als Doppelagent

Es war wahrscheinlich im Jahr 1972, als ich bereits seit einem Jahr oder mehr Pres­sereferent der Senatsverwaltung für Familie, Jugend und Sport war, dass ich Vor­sitzender der Jungsozialisten wurde und damit in den Landesvorstand der SPD in Berlin gelangte. Kurz darauf meldete sich bei mir ein Journalist der Nachrichtenagen­tur Nowosti. Er hatte eine Menge Fragen, was weiter nicht verwunderte, da zu dieser Zeit die JuSo’s eine große Vietnam-Demonstration vorbereiteten und wir dazu eine Art Volksfront organisierten, in der von anarchistischen Gruppen, über die FdJ(W) bis zu den Pfadfindern alles vertreten war. Dabei wurden wir von der rechten Führung der SPD und noch mehr von der Presse heftig kritisiert.

Es zeigte sich sehr schnell, dass Igor – nennen wir ihn einmal so – weitergehende Informationsinteressen hatte.

Er wollte gerne wissen, was alles im Landesvorstand thematisiert werde und stellte dabei Fragen, die sich vor allem auf das Verhältnis zwischen den Blöcken und die Beziehungen der Bundesrepublik zu den östlichen Staaten bezog. Ich hörte die Nachtigall trapsen und war gewärtig, alsbald auf meine Friedensliebe angesprochen zu werden. Das hatte sieben Jahre zuvor schon Andrzej Wojtowicz gemacht, als er mich für den polnischen Geheimdienst anwerben wollte, auch er ein Journalist, der dabei auch noch schamlos auf unsere Freundschaft pochte und meinte, ich könne ihm helfen, früher und besser informiert zu sein als andere. Das würde ihm beruflich sicher dienlich sein und er würde sich dann auch erkenntlich zeigen.

Es dauerte nicht lange und der Leiter der Personalabteilung, Klaus-Peter P., ein sozialdemokratischer Genosse, kam zu mir und erinnerte mich beiläufig daran, dass ich nach den Regeln des Berliner öffentlichen Dienstes verpflichtet sei, meine Ost­kontakte zu melden. Er bezog sich zwar auf meine damaligen periodischen Kontakte zur chinesischen Botschaft im Ostteil, aber kurz darauf klingelte das Telefon und ein namenloser Mitarbeiter einer Behörde, deren Namen er ebenfalls nicht nannte, „Sie wissen schon“, sprach mich direkt auf den letzten Kontakt mit Igor an. „Wir sind sehr daran interessiert, dass Sie diesen Kontakt aufrecht erhalten“, sagte er „und ich möchte mich nach jedem Gespräch mit ihnen treffen und wissen, was Sie bespro­chen haben. Es ist für uns von großer Wichtigkeit zu erfahren, wonach Ihr Kontakt genau gefragt hat.“

So begann mein Leben als Doppelagent.

Es war anfangs eine nette Abwechslung. Igor rief an und ging mit mir zu Mittag es­sen. Das Lokal konnte ich bestimmen und weil für mich das ganze ein Spiel war, traf ich mich mit ihm gerne in einem chinesischen Lokal. Ich hatte gehofft, es würde ihn ärgern. Tat es aber nicht. Ich wechselte zum Italiener. Tags darauf musste ich mit meinem Agentenführer vom Verfassungsschutz erneut essen gehen und berichten, was Igor hatte wissen wollen.

In dieser Zeit gelang uns in der chinesischen Botschaft in Pankow bei unseren Ver­handlungen über die Reise einer Delegation ein überraschender Durchbruch. Mona­telang hatten wir uns vom dritten Pförtner langsam in der Hierarchie bis zum Stellver­treter des stellvertretenden Attachées vorgearbeitet, der für die Freundschaftsgesell­schaften zuständig war. Wieder einmal führten wir zähe Verhandlungen in einem ungemütlichen Vorsaal, als mich plötzlich der Konsul zu sich rufen ließ. Nur wollte er sich gar nicht mit mir über eine Reise von JuSo’s und Falken in die Volksrepublik unterhalten. Nach der förmlichen Begrüßung teilte er folgendes mit: die ehemalige Residenz (oder Botschaft) Chinas am Kurfürstendamm – heute residiert dort der Zuckerbäcker Leysieffer – sei nach wie vor Eigentum Chinas. Der Hausmeister, ein Verräter und verantwortungsloses Subjekt, das sich von einer abtrünnigen Provinz Chinas bezahlen lasse, wolle nun eine alte amerikanische Limousine auf dem Old­timer-Markt verkaufen, die eindeutig zum Besitz Chinas gehöre. Das sei eine schwe­re Beleidigung der Volksrepublik. Sprach, verabschiedete sich und verschwand.

Wir waren perplex. Was hatte das mit unseren Reiseabsichten zu tun? Aber ich be­griff: wir waren soeben zu Botschaftern Mao Tsedongs ernannt worden. Also rief ich anderntags im Rathaus Schöneberg an und ließ mich zu Papa Herz, dem Chef der Senatskanzlei durchstellen. „Genosse“, sagte ich, „ich glaube ich soll Dir etwas aus­richten“ und berichtete ihm von meinem Gespräch mit dem Konsul Chinas. Peter Herz war hoch erfreut: „endlich!“ sagte er, „endlich haben wir damit eine Kontaktmög­lichkeit – Du weißt ja gar nicht, wie lange wir schon darauf warten mit denen da drüben zu reden. Offiziell können wir’s ja nicht. Klar, da machen wir was. Danke auch schön.“

Ich habe nie erfahren, was der Westberliner Senat gemacht hat, ob er die alte Limou­sine selbst gekauft und den Chinesen nach Ostberlin gebracht hat? Oder nur die Kaufsumme überwiesen? Und wie hat der Senat Taiwan bedient, die abtrünnige Provinz, den einzigen chinesischen Staat, mit dem die Bundesrepublik damals offizi­elle Beziehungen unterhielt und das die Kosten für Hausverwaltung und Hausmeister des leerstehenden Gebäudes trug?

Jedenfalls ging danach alles schnell. Die Empfänge in der Botschaft wurden nun freundlich, man lud uns zum Essen ein und schließlich bekamen wir die Nachricht, man habe in Peking unser Ansinnen freundlich aufgenommen, den Status einer Freundschaftsgesellschaft zugestanden und wir könnten nun bald reisen.

In der Zwischenzeit hatte ich einen neuen „Hausrussen“. So wurden diese Kontakt­partner genannt, über die praktisch jeder Westberliner Politiker verfügte. Er arbeitete diesmal für die Prawda und auch er hieß Igor. Er war, was den persönlichen Umgang anging, kein Kind von Traurigkeit, in der Sache aber fast genau so dröge wie sein Vorgänger. Es hatte sich ziemlich schnell herausgestellt, dass die allermeisten Ge­sprächsthemen der Igors an den Tagen davor in der Frankfurter Allgemeinen abge­handelt worden waren. Ich musste mich vor dem Mittagessen mit Igor also zwei, drei Tage lang durch die Bleiwüste und durch Artikel kämpfen, die mich eigentlich nicht interessierten. Aber es war unabdingbar, denn die Igors wollten auch nur Meinungen hören, über die dort schon berichtet worden war. Igor II war allerdings insofern noch anstrengender, als er am Ende des Mittagessens manchmal ein Thema vorgab, über das er das nächste Mal sprechen wollte oder gar vorher kurzfristig anrief. Es sah fast so aus, als ob er mich langsam aufbauen und fester einbinden wollte, indem er mir kleine Rechercheaufträge erteilte.

Igor II war Profi; es war ihm sicherlich klar, dass ich nicht unbemerkt mit ihm in Restaurants herumsaß und redete und es war ihm auch klar, dass ich über ein paar Querverbindungen in andere Verwaltungsbereiche verfügte. Eines Tages sagte er, er sei zwar Journalist, aber auch seine Kontakte mit den Dienststellen in der Hauptstadt gingen gelegentlich darüber hinaus. Er sei gebeten worden, mich über etwas zu in­formieren, was dort für große Verärgerung sorge und die Sicherheit an der Grenze gefährde. Wir – und damit meinte er die Jugendverwaltung – wir hätten doch dort an der Grenze so ein sozialpädagogisches Projekt…

Er meinte das Georg-von-Rauch-Haus, das am 8. Dezember 1971 nach einem teach-in zum Tod dieses Anarchisten besetzt worden war. Studenten, wohnungslose deklassierte Jugendliche und Leute aus dem Sozialarbeitermilieu hatten sich des Schwesternheims des ehemaligen Krankenhauses Bethanien bemächtigt. Es hatte einen riesigen Aufschrei in der Öffentlichkeit gegeben: Rechtsbruch! Terroristen! Aber wir hatten es, nach schwierigen Verhandlungen mit den Besetzern und in einem anstrengenden und diffizilen politischen Balanceakt als „selbstverwaltetes Jugend­zentrum“ legalisieren können. Während wir mit allerlei sozialpädagogischem Wort­geklingel die Presse zu beruhigen suchten, lebten sich die Jugendlichen selbstver­waltet aus: sex and drugs and rock’n roll. Brav waren sie nicht, aber originell. Und sie hassten alles, was Herrschaft ausübte und Uniformen trug. Da hatten sie meine volle Sympathie.

Das Georg-von-Rauch-Haus war also nicht nur der rechten Frontstadtpresse und den vereinigten Konservativen aller Parteien ein Dorn im Auge, nun beklagte sich auch noch die DDR. Am liebsten hätte ich laut aufgelacht, als Igor die Klage übermit­telte. Die Bewohner provozierten die Grenztruppen der DDR am antifaschistischen Schutzwall so sehr, dass die dort kaum noch ihren verantwortungsvollen Dienst aus­üben könnten. Die Jugendlichen stellten riesige Lautsprecher in die Fenster und be­schallten die Grenzschützer schrecklich laut mit schrecklicher Musik. Und nicht nur das. Sie lenkten sie auch noch mit bestimmten Handlungen ab. „Ja womit denn?“, fragte ich. „Mit unmoralischen! Im Fenster!“ „Und was muss ich mir darunter vorstel­len?“ „Sie machen Liebe! Im Fenster! Das müssen sie abstellen!“

Ficken auf dem Fensterbrett! Eine Art „Propaganda der Tat“ gegen autoritäre Zwangsstrukturen. Ich konnte mir richtig vorstellen, wie die armen Kerle im Beob­achtungsturm die Ferngläser an die Augen pressten und mit einem schnellen Griff ihrem Schniedel im Schritt der Uniformhose Platz zur Entfaltung verschafften. Das war fantastisch! Allein schon aus Bewunderung für den artistischen Aspekt dieser Liebesübung hätte ich es nicht über das Herz gebracht, die Klage weiter zu geben! Geschweige denn, auf die Leute vom Rauch-Haus einzuwirken, auf das Demonstrati­onsvögeln zu verzichten. Die hätten mit mir mitgelacht. Also behielt ich die Nachricht für mich. Auch gegenüber dem Verfassungsschutz blieb dies, wie die Chinasache auch, mein Privatvergnügen.

Leider kamen keine weiteren highlights dazu. Die Arbeit als Doppelagent kostete hauptsächlich Zeit, die ich lieber revolutionäreren Aktivitäten oder dem Job gewidmet hätte. Und ich wurde fetter. Mittlerweile kannte ich so gut wie alle mittelprächtigen Lokale zwischen der Potsdamer Straße und dem Kurfürstendamm, obwohl mir bei der Auswahl auch Fehler unterliefen. Einmal, kaum war ich vom Essen zurück, rief mein Agentenführer schon im Büro an. Er klang genervt und verärgert: „Bitte machen Sie das nicht noch einmal. Sie können mit Igor nicht ins ‚Bacco‘ gehen, verstehen Sie, das ist das Verkehrslokal der französischen Kollegen!“

So ging das zwei oder mehr Jahre und es wurde mir langsam lästig. Es war reine Zeitverschwendung. Ich dachte daran auszusteigen. Die Gelegenheit schien gekom­men, als mich jemand anrief, mit dem ich gar nicht gerechnet hatte. Es war Freidank, den ich als linken Genossen aus der Abteilung Grunewald kannte und der dort nach dem Tod von Benno Ohnesorg meinen Partei-Ausschlussantrag gegen den Polizei­präsidenten vehement unterstützt hatte. Er hatte damals Andeutungen gemacht, er habe mit dem Verfassungsschutz zu tun, Amt und Amtsleiter aber mit sehr negativen Bemerkungen bedacht. Freidank leitete die Abteilung Abwehr und er meldete sich mit Namen. Er sagte: „Igor kommt morgen nicht. Er war geschickt und wurde uns ge­fährlich. Wir sind froh, dass wir ihn endlich abschalten konnten. Er ist seit vorgestern in Wien.“ „Und wie kommt das?“ fragte ich. „Zufall“, sagte Freidank, „der Zufall kam uns zu Hilfe. Letzte Woche hat er sich nachts im Pressehaus eine Putzfrau gegriffen und vergewaltigt. Damit hatten wir ihn.“

„Davon hat aber gar nichts in der Zeitung gestanden“, sagte ich und schämte mich gleich etwas meiner Naivität. „Und was soll sonst an ihm so gefährlich gewesen sein“? „Er war geschickt. Er brachte die Leute zum Reden. Diese Arschlöcher! Du glaubst ja gar nicht, was ihm die Herren Genossen“ – er nannte die Namen zweier rechter Jungtürken, die sich mittlerweile auf Parlamentssitze hochgeschleimt hatten – „Du glaubst ja gar nicht, was die ihm alles erzählen. Die platzen doch vor Stolz, wenn sie mal was rauskriegen können oder was wissen. Die sagen alles, aber auch alles.“

Freidank machte mir Komplimente über meinen geschickten Umgang mit den Igors und beschwor mich, jetzt nicht aufzuhören. Es sei wichtig zu wissen, welche Namen Igor weitergebe und wie schnell sein Nachfolger sich bei mir melde.

Weil er es war, der mich bat, machte ich weiter. Wieder meldete sich ein Igor, ein Journalist. Die Namengleichheit wurde langsam etwas lächerlich, war aber vermutlich purer Zufall. Es war ein jüngerer Kollege, ein eher gewissenhafter und beflissener Typ und ziemlich langweilig. Nach dem zweiten Treffen hatte ich genug. Ich sagte zu ihm: „Sie wissen vermutlich, dass ich gezwun­gen bin, meiner Dienststelle mitzuteilen, dass ich mich mit ihnen treffe und dass ich darüber berichten muss. Das ist ein ziemlich umständliches Verfahren. Hätten Sie nicht Lust, direkten Kontakt aufzunehmen? Das würde mir viel Zeit und Arbeit sparen.“

Igor war verwundert. Mein Agentenführer aber fuhr aus der Haut: „Was haben Sie gemacht? Sind Sie verrückt?“ „Aber überhaupt nicht. Sehen Sie: ich muss vorher immer die FAZ lesen, die ich nicht mag. Dann reden wir über die Lektüre und hinter­her berichte ich Ihnen davon. Es wäre doch wirklich einfacher, Sie setzen sich gemeinsam ins Cafe, lesen Zeitung und reden miteinander darüber, was sie davon halten sollen. Wenn Sie wollen, nehme ich Sie das nächste Mal mit und stelle Sie vor.“

Damit war meine Arbeit als Agent beendet. Beide Seiten schalteten mich ab und riefen nie wieder an.

Jahre später, als der Verfassungsschutz Einblick in seine Akten gewährte, erfuhr ich, dass die andere Abteilung des Amts, jene, die Extremisten und Verfassungsfeinde aufzuspüren und dingfest zu machen hatte, mich zur gleichen Zeit überwachte und bespitzeln ließ, als ich ihrer eigenen Abwehr gegen die Sowjets beistand.

Die Lektüre war nicht uninteressant. Mein erster Arbeitgeber, die Freie Universität, vielleicht war es aber auch nur der Fachbereich Erziehungswissenschaften gewesen, hatte eine Anzeige und die staatsanwaltlichen Ermittlungen beigesteuert, die gegen mich wegen Unterstützung der Institutsbesetzung gelaufen waren. Ich war dort als Abgesandter des Präsidialamtes hingeschickt worden, um beruhigend auf die Stu­denten einzuwirken und hatte ihnen Kuchen mitgebracht. Von den Verhandlungen um die Vietnam-Demonstration, die wir damals im RPJ am oberen Kurfürstendamm geführt hatten und zu denen Rudi Dutschke, kaum genesen, eigens aus Aarhus an­gereist war, war ein ziemlich wirrer Spitzelbericht abgeheftet. Der ganz überwiegen­de Teil dieser Akten bestand aber aus Presseberichten der Springer-Presse und einem obskuren Denunzianten-Blatt eines Steglitzer Lehrers.

Zu meiner Tätigkeit für die Abteilung Abwehr fand sich kein Hinweis. Offenbar hatten beide Abteilungen keinen offiziellen Kontakt. Und redeten auch sonst nicht direkt mit­einander. Vielleicht hätten sie dafür einen Doppelagenten gebraucht. Zur Weitergabe von Presseausschnitten und offenkundigen Informationen.

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